Ein geglücktes Experiment

29.09.2020

Das „Podium junger Künstler“ setzt einen glänzenden Schlusspunkt unter den Musikalischen Sommer 2020. Das Thema beim Konzert in der Frauenkirche lautet „Aus der Ferne“ und beschert ungewöhnliche Kombinationen. (Mühlacker Tagblatt)

Beim Abschlusskonzert des Musikalischen Sommers spannen die Musiker stilistisch einen weiten Bogen. Foto: Fotomoment
Beim Abschlusskonzert des Musikalischen Sommers spannen die Musiker stilistisch einen weiten Bogen. Foto: Fotomoment

Mühlacker-Lienzingen. Elf junge Musikerinnen und Musiker aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichsten Kontexten trafen sich in der vergangenen Woche, um mehrere Tage lang projektartig an einem Konzertprogramm für die Matinee am Sonntag in der Frauenkirche Lienzingen zu arbeiten, mit der der Musikalische Sommer 2020 zu Ende ging. Die jungen Profis, die miteinander befreundet sind, haben allesamt ein künstlerisches Studium an einem Streichinstrument erfolgreich hinter sich gebracht und sind jetzt bereits in Orchestern oder anderen Ensembles angestellt. So auch Simon Wallinger, der künstlerische Leiter der mittlerweile achten Lienzinger Akademie, der nach seinem Kontrabass- und Klavierstudium inzwischen beim Bayerischen Rundfunk arbeitet, sich nebenher aber noch in einem Dirigierstudium weiterbildet.

Was bei der intensiven Arbeitsphase herauskam, ist absolut bewunderns- und bemerkenswert. Die Künstler haben sich bei diesem Projekt beileibe nicht nur technisch mit sehr anspruchsvollen Werken aus fünf Jahrhunderten auseinandergesetzt oder ihre Freundschaft gepflegt. Nein, ihre Zusammenarbeit ging in allabendlichen philosophischen Gesprächen sehr viel weiter, bis hin zu existenziellen Fragen des Menschen, etwa jenen, was von ihm bleibt, wenn er nicht mehr ist, oder wie etwas geworden ist, wie es ist, oder was in der Zukunft werden wird.

Übertragen auf die Musik hieße das: Was bleibt von der Musik, wenn sie verklungen ist? Oder welchen Einfluss hat sie auf zukünftiges Musikschaffen? Das Motto der Matinee „Aus der Ferne“ spiegelte das Ergebnis dieses gemeinsamen Nachdenkens und Fragens wider und evozierte zugleich mehrere Dimensionen der Ferne: die zeitliche, die kulturelle und die räumliche. Der musikgeschichtlich sehr weit gespannte Bogen des Konzertes von der italienischen Renaissance, dem französischen Barock über Johann Sebastian Bach bis hin zu Igor Strawinsky und dem zeitgenössischen ungarischen Komponisten György Kurtág sollte das noch immer vorherrschende Denken, die Kunstgeschichte sei eine zusammenhangslose Aneinanderreihung von künstlerischen Ereignissen und Produkten, in Frage stellen. Vielmehr ist richtig, dass die Epochen der Kunstgeschichte und ihre Vertreter schon immer in Beziehung zu Vorausgegangenem und in einem lebendigen Austausch standen und stehen.

Johann Sebastian Bach etwa hat zahllose nachfolgende Generationen von Musikern herausgefordert und zugleich inspiriert. Seine Musik, die als „absolut“ gilt, fällt gleichsam aus der Zeit heraus und kann ohne Not mit jeder anderen vor und nach ihm zusammengespielt werden. Das Orchester „Podium 2020“ musizierte folgerichtig fünf Sätze aus Bachs „Musikalischem Opfer“ alternierend mit fünf zeitgenössischen Microludien von György Kurtág. Solche gewagten Kombinationen bleiben freilich immer ein Experiment mit ungewissem Ausgang.
In der gotischen Frauenkirche ist es geglückt. Die Zuhörer, denen allerdings einiges abverlangt wurde, verfolgten aufmerksam das vielgestaltige Programm. Die Verbindung des ersten Stücks, einem von vier Bassstreichern gespielten Madrigal „Calami Sonum Ferentes“ des italienischen Renaissance-Komponisten Cipriano de Rore, zu Bachs „Musikalischem Opfer“ stellten archaisch-ferne chromatische Basslinien her. Das ebenso chromatisch geprägte „Thema regium“ in Bachs genialem Spätwerk stammt übrigens von Friedrich dem Großen, der den deutschen Barockmeister zu diesem komplexen Werk angeregt hat.

Der russische neoklassizistische Komponist Igor Strawinsky hat sich wiederum von Bachs Brandenburgischen Konzerten zu einem dreisätzigen „Concerto in Re“ inspirieren lassen, das sich – außerhalb der vertrauten Dur-Moll-Tonalität – mit viel Witz und Ironie mit der Rhythmik und dem lebhaften Wettstreit der Streicherstimmen jener barocken Vorbilder auseinandersetzt. Simon Wallinger, der allmählich immer spürbarer in die (großen) Fußstapfen seines Vaters und Mentors Peter Wallinger tritt, war bei Strawinsky als impulsgebender Dirigent zu erleben. Seine zehn Kollegen spielten dabei auf hohem Niveau, konzentriert und feinsinnig.

Auf demselben Niveau ging es mit Simon Wallinger am Cembalo nach der Pause weiter. Mehrere Sätze aus der festlich-galanten Ballettoper „Les Indes Galantes“ des französischen Hofkomponisten Jean-Philippe Rameau, in denen einem das Ferne als das Ahnen ferner Kulturen begegnet, bildeten den Abschluss dieser ausgesprochen gelungenen Matinee, die schon im Programmheft „neue Formen des Konzertierens und Musikerlebens“ versprochen hatte. Und nicht nur die sonntäglichen Konzertbesucher verließen beglückt den Kirchenraum. Auch Ludwig XIV., der Sonnenkönig, wäre begeistert gewesen.

(Mühlacker Tagblatt vom 29.09.2020, Text: Dr. Dietmar Bastian, Foto: Fotomoment)